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Am Abend vor Silvester war ich zum letztenmal bei Lammasch, acht
Tage vor seinem Tode, und fand ihn da heller, gesprächiger, heiterer als je seit
seiner Heimkehr. Vernichtet ging er von Saint- Germain weg, er schien wie mitten
entzwei, nur seine Demut hielt ihn im Vertrauen auf Gott noch fest: er verlor den
Glauben nicht, daß sich die Menschheit wiederfinden wird,- doch er wußte, daß wir
in unseren Jahren nicht mehr hoffen dürfen, das Abendland noch einmal zu sehen,
sei’s auch nur in der ja schon höchst fragwürdigen und gebrechlichen Form, durch
die wir uns bis zum Kriege eine gemeinsame Kultur hatten vortäuschen lassen,
geschweige denn in der unverbrüchlichen Gestalt eines aller nationalen Selbstsucht
entrückten Völkerrechts, dem er seine Lebenskraft geweiht hatte. Die diente dem
Völkerbund, lange bevor man öffentlich von ihm sprach. Ich vermute, daß es doch
eigentlich nur Lammasch und Wilson mit dem Völkerbund ernst meinten: den beiden
war er ein Ziel, den anderen doch immer nur ein Hilfsmittel ihrer Politik, wie
irgendein anderes auch, dessen man sich heute bedient, um es nach Gebrauch morgen
wieder abzutun. Ihnen beiden aber war s der Anfang einer menschenwürdigen
Gesellschaft von Völkern; und jetzt liegt Wilson einsam im Sterben und Lammasch
ist tot! ... Lammasch war menschlich vor allem dadurch so merkwürdig, daß er bei
höchster geistiger Ausbildung und einer vollkommenen sittlichen Zucht sich doch
das Urwüchsige seiner angeborenen Natur ganz unversehrt erhalten hatte. Die
meisten haben nur die Wahl, entweder roh zu bleiben oder wenn sie sich auf
irgendeine Form einlassen, dadurch an Eigenart zu verarmen; Bildung schwächt sie,
der »Gebildete« pflegt, was er an geistiger Haltung gewinnt, an instinktiver
Sicherheit zu verlieren, seine Natur erstickt unter den darüber aufgeschichteten,
aber niemals mit ihr selber verwachsenden Zugaben, und durch alles Angelernte
hindurch schließlich wieder zur Unschuld der angeborenen Eigenart zurückzukehren,
will heute wenigen gelingen. In Lammasch aber war gerade dies Angeborene, das
Urlebendige, das sozusagen Anonyme seines Wesens offenbar von solcher
Entschiedenheit, daß die Flamme, wie viel dämpfende Gewalten er auch aufschütten
mochte, doch immer wieder durchzuschlagen niemals abließ. Er gab das höchste
Beispiel einer jetzt sehr seltenen Menschenart, der man am ehesten noch in
Benediktinerklöstern begegnet, wo zuweilen auch, wenn einer von den ehrwürdigen
Greisen den frommen Blick vom Gebet aufschlägt, uns aus seinen Augen noch das
Kind, ganz unberührt, arglos anlacht. Diese zweite Kindheit, reiner noch und
seliger vielleicht als die erste, eine wohlerworbene, wissende, selbstgewählte
Kindheit, die Kindheit der Selbstüberwindung gab allem, was Lammasch sann, sprach
oder tat, einen unvergeßlichen Reiz, er war in seiner Würde von einer Anmut, in
seinem Ernst von einer Freudigkeit, in seiner Härte selbst noch von einer
Unbefangenheit, er war so ganz aus einem Stück, so notwendig und unvermeidlich aus
sich selbst erwachsen und in sich selbst zusammenhängend, daß, wer ihn nicht ganz
verleugnen wollte, sich ihm ganz ergeben mußte. Wie sein Antlitz, auf den ersten
Blick ein typischer Gelehrtenkopf, durch die schrägen buschigen, starrenden
Augenbrauen etwas höchst Individuelles, Drohendes, ja geradezu Pathetisches, wie
seine milde Stimme zuweilen auf einmal einen unerwarteten Klang von Erz bekam, so
war sein sanftes, grundgütiges, stilles Wesen von einem unbeugsamen, ja fast
dämonischen Willen zum Rechten eingefaßt. Er hatte nichts, gar nichts von den
veilchenblauen Pazifisten aus schlechten Nerven, er hatte die große Leidenschaft
für den Frieden, für einen Frieden nämlich, der erst kommen kann als natürlicher
Ausdruck einer höheren, aus Entsagung und Verseelung aufblühenden Menschlichkeit,
deren schönste Verheißung er selber in seinem Heldenmut zur Liebe war. Diese
Liebe, die er lebte, hatte nichts Unfreites, Verschicktes, Einschläferndes, es war
die kämpfende Liebe der todbereiten Antigone, es war die siegende Liebe der Mä
tyrer und Bekenner, es war ja die jauchzende Liebe zum Willen Gottes, eine Liebe,
zornentbrannt gegen jedes Unrecht, eine gewaltig eifernde Liebe, die sich nicht
lange besinnt, wenn es sein muß, auch einmal vor Güte bös zu werden. Sie hat nie
den faulen Frieden der Händler gemeint, sondern den heiligen Frieden, den über der
Krippe der Engelchor den Menschen guten Willens verheißt. Es war etwas
Streitbares, etwas Triumphierendes in den kühnen Blicken seiner drängenden,
stürmenden Friedensliebe; sie ging nicht auf irgendein lasches Paktieren aus, auf
Vertuschen oder Beschwichtigen oder Zerreden von Gegensätzen, sondern auf stolzen
Sieg der Vernunft über alle niederziehenden Gewalten. Wie denn dieser fromme
Katholik überhaupt in vielem Kant glich, auch mit solcher Leidenschaft bemüht, ein
ihm ganz unmittelbar gewisses, sozusagen vitales, sich in ihm mit der Sicherheit
körperlicher Funktionen von selbst vollziehendes Bedürfnis des Guten, Rechten,
Schönen, das Erbstück alter religiöser Kultur, nun auch noch logisch
unterzubringen und sich gewissermaßen seinen Glauben noch von der Vernunft
beglaubigen zu lassen. Er war darin ein richtiger Altösterreicher: Kant hat auf
Österreicher seiner Zeit stark gewirkt (übrigens ein gutes Thema für ein
philosophisches Seminar, einmal Kants Spuren in österreichischen und bayrischen
Klöstern darzutun!), auf manche so, daß sie fortan des Glaubens entraten zu können
meinten, ein Irrtum, der die Weltanschauung des Altliberalismus ergab, aber andere
wieder eben dadurch, daß er ihnen das Reich der Freiheit erschloß, ermutigend, aus
jenem vagen Deismus des achtzehnten Jahrhunderts, mit dem sich ihre Generation so
gern abfand, getrost zur lebendigen Gestalt unseres angestammten Glaubens
heimzukehren: Feuchtersleben und Stifter sind die reinsten Beispiele dafür und es
war einer der großen Glücksfälle meines Lebens, daß ich ihrem hohen Geiste noch an
Lammasch sozusagen in Person begegnen durfte. Das war im ersten Kriegsiahr, als
noch alle Leute, wenn sie sich’s jetzt auch nicht mehr eingestehen wollen, im
Taumel der Begeisterung waren. Ich schwärmte nicht mit, hielt aber dafür, daß wir,
nachdem das Unglück einmal geschehen und der Krieg ausgebrochen, alles aufzubieten
hätten, um zu siegen. Lammasch aber, den ich damals kennen lernte, sah von Anfang
voraus, daß wir nicht siegen konnten, weil eher die ganze Welt gegen uns
aufzustehen bereit war, als zuzulassen, daß Europa preußisch würde. So hatten wir
also nur die Wahl zwischen Verrat an Preußen oder eigenem Untergang. Es kam dann
eine merkwürdige Zeit: da fingen nämlich dann bald auch deutsche Staatsmänner und
deutsche Feldherren dies zu begreifen, ja selber den »Verrat« Österreichs zu
wünschen an, weil sie nämlich, an ihrer Kraft zum Sieg verzweifelnd, in ihrer
Todesangst vor dem Unwillen des eigenen, sich belogen erkennenden Volkes einen
Blitzableiter für ihn suchten. Um diese Legende, daß nur Österreichs tückischer
»Verrat« das deutsche Volk um den schon errungenen Sieg betrogen hätte, würdig
vorzubereiten, wurde zur selben Zeit, als man in Berlin den Krieg verloren zu
geben begann, dort um so lauter vom Sieg renommiert, zugleich aber schon
Österreich der Schwäche, des »Umfallens« verdächtigt, eben des Verrats, den man
doch dort selber als einzigen Ausweg für sich wünschte. Wieder in Wien aber waren
gerade die Fürsprecher des »Verrats« am heftigsten über die Zumutung empört, den
Schein eines Verrats auf sich zu nehmen. Alle, hier wie dort, gaben sich
geschlagen, es sollte nur nicht so heißen. Alle wollten im Grunde dasselbe, nur
verantworten hat es keiner wollen. Ganz wie Pilatus, der mit allem einverstanden
ist, wenn er sich nur die Hände waschen kann. »Denn wie steh denn ich sonst vor
den Leuten da?« ruft der Wiener in solchen Fällen, und aus solcher Höllenangst,
nur um Gotteswillen nicht vor den Leuten schlecht dazustehen, brach damals im
Herrenhaus jener Theatersturm gegen Lammasch aus. Er und der junge Kaiser Karl
waren die einzigen, die nicht fragten: Wie steh ich denn da? s ndern immer nur
fragten: Was ist meine Pflicht? Hätte der junge Kaiser zu seinem hohen
Pflichtgefühl nur einen Schuß von Friederizianischer Verachtung des Urteils der
Welt und einige Menschenkenntnis gehabt, Österreich und Deutschland wären beide
durch ihn noch zu retten gewesen. Er aber an Einsicht allen seinen Ratgebern
überlegen, war leider gar keine einsame Natur, er konnte den aufmunternden Zuruf
der Menge nicht entbehren, er hat es als echter Österreicher immer allen recht
machen wollen, ihn verlangte nach dem Rechten, doch unter allgemeinem Applaus. So
war Lammasch schon im Sommer 1917 einmal abends eine Stunde lang beinahe
Ministerpräsident, aber eine Stunde später hatte man dem Kaiser wieder eingeredet,
es hätte ja noch Zeit: »Der Lammasch bleibt uns schließlich immer noch!« Aber als
ihm dann am Ende wirklich nichts mehr als der Lammasch übrig blieb, da war halt
nichts mehr, was der noch hätte retten können: in jener Sommerstunde von 1917, wo
sich’s der junge Kaiser noch wieder anders überlegte, hat er seine Krone
verspielt. Er wollte gar zu sicher gehen, ihm fehlte die nachtwandlerische
Zuversicht, mit der sich Bismarck, als in der Schlacht bei Königgrätz der
Kronprinz noch immer nicht kam, ruhig seine letzte Zigarre schmecken ließ.
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