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Zur Lüftung meiner Ohren von dem grassierenden Umsturzdeutsch
les ich jetzt täglich wieder ein paar Seiten Stendhal, am liebsten in den Briefen,
wo seine forellenbachklare Sprache ganz unmittelbar quillt. »J’abhorre le style
contourné«, bekennt er selbst, in dem wunderbaren Brief an Balzac. Ich schreibe,
sagt er da, so schlecht nur aus übertriebener Liebe zur Logik. Und er hatte die
Gewohnheit, bevor er schrieb, gern ein paar Seiten des Code civil zu lesen, um
sich an »Natürlichkeit« zu gewöhnen. So sollten unsere jungen Dichter verhalten
werden, täglich ein paar Stunden das Dienstreglement unserer weiland Armee zu
lesen, eines der wenigen österreichischen Bücher von wirklicher Prosa. Seine
Leidenschaft für den »natürlichen« Stil aber begründet er so: »Je ne veux pas par
des moyens factices fasciner l’âme du lecteur.« Das ist der Unterschied zwischen
dem »gesuchten« Stil und dem (wie Nietzsche ihn genannt hat) »gefundenen« Stil.
Dieser wird nämlich in der Sache selbst gefunden. Dazu muß man aber erst eine
Sache haben, der man die Kraft zutraut, durch sich selbst zu wirken. Wer dagegen
einen Stil erst sucht, verrät, daß seine Sache zu schwach ist und er darum den
Leser nicht durch sie faszinieren kann, sondern die Hilfe von moyens factices
braucht. »Ich suche«, sagt Stendhal, »wahr und klar zu berichten, was in mir
vorgeht. Ich kenne nur eine Regel: klar zu sein. Wenn ich nicht klar bin, ist
meine ganze Welt vernichtet.« Wer aber nichts in ihm Vorgehendes zu berichten hat,
sucht einen Dunst, als ging dahinter doch vielleicht etwas vor. ... In einer
ausschweifenden Stunde hat Stendhal einmal feierlich erklärt, er schreibe nur für
hundert Leser. Meistens ist er bescheidener und begnügt sich mit zwanzig. Ob
Goethe heute mehr hat, mehr als zwanzig wirkliche Leser auf dem Erdenrund? Und er
ist doch in seiner Prosa beiweitem nicht so streng wie Stendhal, oder er ist,
richtiger ausgedrückt, nicht so einseitig streng wie Stendhal. Auch er will, in
der Zeit seiner Reife, Klarheit des Ausdrucks, auch er will vor allem die Sache
selbst, aber sie genügt ihm noch nicht. »Durch eine so genaue Schätzung der Worte,
durch den bestimmten Gebrauch derselben entsteht eine gefaßte Sprache, die sich
von der Prosa weg unmerklich in die höheren Regionen erhebt und daselbst poetisch
für sich zu schalten vermögend ist.« Er rühmt (in einem 1804 für die
Literaturzeitung verfaßten Aufsatz) an Heinrich Voß: »Ihn befriedigte nicht allein
jene Gediegenheit des Ausdrucks, wo jedes Wort richtig gewählt ist, keines einen
Nebenbegriff zuläßt, sondern bestimmt und einzig seinen Gegenstand bezeichnet (das
ist es doch, was Stendhal mit der Forderung »klar zu sein« meint, aber Goethe
fordert nun noch mehr), er verlangt zur Vollendung Wohllaut der Töne, Wohlbewegung
des Periodenbaus, wie sie der gebildete Geist aus seinem Innern entwickelt, um
einen Gegenstand, ein Empfundenes völlig entsprechend und zugleich bezaubernd
anmutig auszudrücken.« Damit ist ein höchstes Ideal vollendeten Stils gewiesen:
»Völlig entsprechend und zugleich bezaubernd anmutig!« Aber wo finden wir es
erreicht? Bei Herodot und Xenophon, bei Cäsar, beim Evangelisten Lukas, bei Dante,
Cola die Rienzo, Petrarca und Manzoni (sie hallen noch zuweilen bis in d’Annunzio
hinein nach), an fünf oder sieben Stellen Walter Scotts und vielleicht auch,
wenngleich verbiedermeiert, Macaulays, bei Voltaire, Flaubert (?) und Maurice
Barrès, bei den Grimms und Uhland, im Nachsommer und Witiko Stifters, bei Bismarck
und Lagarde; doch nun auch noch die Namen Fontane und George herzusetzen, zögert
schon meine Hand. »Völlig entsprechend und zugleich bezaubernd anmutig!« Das
»bezaubernd Anmutige« wäre noch nicht so schwer, aber »zugleich« auch »völlig
entsprechend« scheint wirklich fast über die menschliche Kraft. Auch gerade der
Anblick unserer Jüngsten beweist dies wieder, denen eher noch Ansätze zur »Anmut«
gelingen, aber das »völlig Entsprechende« bisher versagt bleibt, das freilich
vielleicht eine überhaupt nur höheren Lebensaltern mögliche Selbstüberw ndung
voraussetzt. Erschwert wird es den Jüngsten allerdings noch dadurch, daß
vielleicht gerade dieser Generation wieder einmal ein großer Umbruch der Sprache
zugewiesen ist. Ich frage mich oft, ob wir nicht unmittelbar vor einer gewaltigen
Sprachwende, ja vielleicht schon mitten in ihr stehen. Antworten könnte, wenn
irgendein Mitlebender, auf diese Frage nur Burdach; kein anderer hat heute
Burdachs Gehör für das unterirdische Rauschen in unserer Sprache, in Sprachen
überhaupt. Er weiß auch, daß solche Sprachwenden immer Kulturwenden sind; und
Lautwechseln ihren Kultursinn, ihre geistige Meinung abzuhören, darin hat es
dieser Horcher an der Wand zwischen Mittelalter und Reformation zur höchsten
Meisterschaft gebracht. Sein »Bericht über die Forschungen zur neuhochdeutschen
Sprach- und Bildungsgeschichte«, in der Sitzung der preußischen Akademie der
Wissenschaften vom 22. Januar dieses Jahres, ist wieder ein unsäglich beglückendes
Zeugnis davon: ihm und Josef Nadler allein ist doch die deutsche
Sprachwissenschaft noch wahrhaftig »die Wissenschaft vom deutschen Leben«. Wie
Kultur sprachbildend wirkt, aber die Sprache dann es ihr vergilt, indem sie nun
sogleich selber wieder kulturbildend wird, und wie dies in einer höheren Region
als der nationalen geschieht, wie Geist auch über die Völker hinweg zu den
Sprachen spricht, so daß Burdach, ohne paradox zu werden, »Dante den Mitbegründer
der neuhochdeutschen Schriftsprache« zu nennen wagen darf, das läßt jedem, dessen
Werkzeug das Wort ist, wie gering er sich selber auch fühlen oder wissen mag, das
Herz anschwellen vor stolzer Seligkeit ... Dieser Akademievortrag Burdachs
schließt mit den Worten: »Heute sind wir wieder ein zerbrochener Staat, ein
zerrissenes Volk. Und abermals, wie im XIV. und im XVII. Jahrhundert, wird die
deutsche Schriftsprache das Banner der Einheit und der Hoffnung. Mögen wir es
schützen und heilig halten, daß es nicht ein sinnloser sprachlicher Neuerungsdrang
geblähter Ohnmacht frevelhaft zerstückele.« Auch mir wird zuweilen von diesem
»Neuerungsdrang geblähter Ohnmacht« angst, dann aber doch auch wieder angst davor,
eben diese Angst könnte mich dereinst auch den Neuerungsdrang wahrhafter und nur
durch den Gegendruck zur Verzerrung angestauter Sprachkraft überhören lassen; die
beiden mögen zuweilen zum Verwechseln ähnlich klingen. Als die »Geniesprache«
Sturm auf das »meißnische Hochdeutsch« lief, wer war da ganz sicher, Blähungen der
Ohnmacht (die es auch damals gab) von den Zuckungen der Überkraft (die es
vielleicht auch heute gibt oder doch morgen geben wird) immer gleich deutlich
unterscheiden zu können? | |