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Ich gelte für sehr gutmütig und man wundert sich, wie wenig ich
Kränkungen empfinde, wie leicht ich sie nehme, wie rasch ich sie vergesse. Das ist
aber ein Mißverständnis. Mein Verhältnis zum Nächsten wird leider nicht durch
Güte, Wohlwollen und Nachsicht bestimmt, sondern ich bin nur, nach meiner Kenntnis
der menschlichen Natur, bei jedermann immer von vornherein zunächst auf soviel
Niedertracht, Erbärmlichkeit, Bosheit, Tücke, Hinterlist, Verrat und Undank
gefaßt, daß es mich höchst freudig überrascht, ja bis zu Tränen rührt, wenn dann
diese Voraussetzung doch einmal nicht ganz zutrifft. Und ich muß ja sagen, daß ich
jedes Jahr immer von neuem darüber erstaune, wie merkwürdig oft meine
Voraussetzung nicht ganz zutrifft, wie viele Menschen sich, solange man ihre
Selbstsucht ungestört läßt, jeder unnötigen Gemeinheit enthalten, wie sehr die
meisten ihre Natur mäßigen. Gar jetzt, wo doch in unserem Land das Gesetz,
machtlos geworden, nur noch auf dem Papier und in der Menschenbrust, an recht
unsicheren Stellen also, keineswegs aber in Gebrauch steht, ist es eigentlich
verblüffend, von welcher Zurückhaltung sich die menschliche Ruchlosigkeit zeigt:
es sind noch immer auch Leute vorhanden, die nicht stehlen, nicht rauben, nicht
fälschen, nicht plündern, nicht morden; und eigentlich ohne zu wissen, warum
nicht. Ist es bloß die Gewohnheit, die noch nachwirkt? Sind sie nur unfähig, so
rasch umzulernen? Oder trauen sie der neuen gesetzlosen Zeit noch nicht? Oder ist
die sanfte Stimme des Gewissens doch mächtiger als der laute Zuruf der Erbsünde?
Leonhard Frank hätte recht und der Mensch wäre, wenn auch gefallen, im Grunde doch
gut? Aber warum ist dann der gute Mensch so feig und schweigt? Warum steht keiner
auf und gibt allen das Zeichen zum Guten? | |