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Im zweiten Buch der von Alfred Wolfenstein bei S. Fischer
herausgegebenen »Erhebung«, ein mir höchst willkommener Aufsatz Adrien Turels über
»Jedermanns Recht auf Genialität«. Da mag mancher schon bei der Überschrift
auflachen, besonders wer sich selbst ein »Genie« und über die Masse der profanen
Menschheit erhaben dünkt. Mir aber war aller Geniekult, der von den Stürmern und
Drängern stammt, dann aber von Jean Paul, Schlegel und Schopenhauer gar bis ins
Absurde gesteigert wird, denen das Genie ja geradezu, wie Chamberlain sagt, ein
»bestimmtes anatomisch physiologisch ausgezeichnetes Individuum, eine höchste
Potenz der Monade als Monade« ist, immer ein Greuel. Ich hielt mich an einen
anderen Geniebegriff, an den Lavaters, der sagt: »Wer bemerkt, wahrnimmt, schaut,
empfindet, denkt, spricht, handelt, bildet, dichtet, singt, als wenn’s ihm ein
Genius, ein unsichtbares Wesen höherer Art diktiert oder angegeben hätte, der hat
Genie.« Ganz ebenso spricht auch Herder in der »Kalligone« von der »genialischen
Stunde«: da werden wir »mitgenialisch mit dem Genius, fühlen uns seiner Art«. Und
Rudolf Hildebrand, der treueste Gehilfe Grimms, hat im Deutschen Wörterbuch
prachtvoll dargetan, wie Goethe, der selber in der Wildnis seiner Jugend vom
Geniebegriff der Stürmer angesteckt gewesen, ihn bald als »Unwesen« erkennen und
überwinden lernte. »Doch leugne ich nicht,« schreibt Goethe an Schiller, »daß wir
den Creator spiritus wohl zum Freunde haben müssen, wenn wir das nächste Jahr
nicht zurück, sondern vorwärts treten wollen.« Damit war, wie Hildebrand sagt,
»das Genie wieder als schaffender Geist für sich, auch außer und über dem
Menschengeist gedacht, nicht in diesem mit allen Mängeln aufgehend wie in der
Genieperiode, nicht als unverantwortlicher Gott, sondern als verantwortlicher
Vertreter Gottes«. Mir sind auch in meinen ärgsten Zeiten, als sonst mein Geist
gern irre ging, Genies immer Abbreviaturen der Menschheit von besonders
auffälliger oder besonders mitteilsamer Art geblieben. Genie, schrieb ich voriges
Jahr über Edgar Zilsels »Geniereligion«, dieses beißende Pasquill auf sie, Genie
scheint mir gar nicht etwas, was irgendein Mensch ist, sondern etwas was der
Mensch hat, was jeder Mensch hat, nur der eine mehr, der andere weniger, etwas was
über den Menschen kommt, über den einen oft, über den anderen selten, über manche
sichtbar, über andere geheim, nämlich das Rauschen Gottes, das jedes Geschöpf
vernimmt in den erhabenen Stunden, von denen keines je ganz unberührt bleibt.
(Mehr darüber in meiner jetzt bei E. P. Tal erschienenen Schrift »1919«.) Ich
würde nun freilich, wenn mir Genie gleich etwas scheint, das jedermann haben kann,
deshalb noch nicht ein »Recht« jedermanns darauf ansprechen; ein Recht auf Gnaden
kann ich mir nicht denken. Aber daß wir uns besser auf den Besuch des Genius
vorbereiten, daß wir vor allem schon die Kinder zu seinem Empfang rüsten sollten,
darin kann ich ihm von Herzen zustimmen, wenn er mir auch zuweilen der doch etwas
boschen Meinung verdächtig wird, Genie lasse sich kommandieren, Seele drillen:
»Innerliche Meisterung des Entwicklungsganges, das ist Genialität. Auf diese
Genialität hat jeder ein Anrecht, muß jeder ein Anrecht haben können, wenn die
Mitregierung aller mehr sein soll als eine Phrase... Wenn uns etwas nachahmenswert
erscheint in den Bewußtseinsfunktionen eines Kopernikus, eines Marx, so werden wir
den Mechanismus dieses Denkens, seine Kausalität ergründen, und wir werden sie
allmählich, soweit es für die Struktur der Gesellschaft wünschenswert ist, jedem
anerziehen lernen. Das ist, was wir unter Demokratisierung des Genies verstehen.
Nicht Nivellierung nach unten, sondern Nivellierung nach oben. Hirne wie Kants,
wenn nötig, in Serien erzeugt... Ebenso wie das Recht auf Existenzminimum und
Bildung, wird die künftige Gesellschaft jedem das Recht auf die Denkfunktionen
garantieren können, die wir als schöpferische bezeichnen. Sie kann’s, weil alles
genial ist, was da als Mensch lebt und leidet. Der neidvoll verzichtende Äst et
mag mit den Schultern zucken bei dem Gedanken, daß jeder Arbeiter, Bauer sogar
(ich sage nicht jedes Weib, weil doch des Weibes Schöpfertum anders geartet ist),
sich zur Selbsterlösung eines Goethe sollte heben lassen. Wir behaupten: Ja! Und
noch darüber hinaus, weil doch beim alten Geheimrat alles platonisch blieb,
dünkelhaft in sich selbst gefällig, ohne Willen nur Vortrab zu sein zur
Selbsterlösung jedermanns, ohne Sinn für die Tragödie des Banausentums, für den
Adel der Schande... Der Weimarer Minister hat das einzig entscheidende nicht mehr
gefühlt, daß noch in jedem Pfahlbürger dieselbe furchtbare, tragisch-geniale
Zwiespältigkeit zuckt und leidet, die während seiner großen Zeit in ihm selbst
lebte; als er Mephistopheles war und Gretchen, Heinrich, Faust und Wagner
zugleich... Er selbst hat sich nicht auf der gewaltigen Höhe des Bewußtseins zu
behaupten vermocht, daß er jedermanns Bruder sei; ihm nicht nur in der Verdauung,
sondern auch in der seelischen Struktur so gleich wie ein Lindenblatt dem
anderen.« Dies sind Wahrheiten, doch mit vorschnellen praktischen Schlüssen. Gewiß
bestand Erziehung bisher meistens hauptsächlich darin, dem Kinde sein Genie
auszutreiben. Ob es sich aber deshalb auch eintreiben läßt? Auch was wir
Konversionen zu nennen pflegen, ist doch immer im Grunde nur Selbstbesinnung auf
das Genie. Kann aber Konversion zu sich selbst erzwungen werden? Übrigens trotzt
gegen jedermanns Recht auf Genialität insgeheim noch etwas anderes in uns auf:
unsere Persönlichkeit scheint dadurch bedroht, das Gefühl unserer Einzigkeit
gekränkt, der Einzigkeit jedes Individuums: denn jene »Demokratisierung des
Genies« setzt etwas Unerträgliches voraus, sie setzt die Gleichheit aller Seelen
voraus. Aber gerade da kann Turell sich auf den heiligen Thomas berufen, der jene
Einzigkeit nicht unserer Seele, sondern der Materie zuteilt: die Seelen sind
gleich und unterscheiden sich nur nach ihrer verschiedenen Kommensuration zu den
Körpern, alia est substantia huius animae et illius, non tamen ista diversitas
procedit ex diversitate principiorum essentialium ipsius animae, nec est secundum
diversam rationem ipsius animae, sed est secundum diversam commensurationem
animarum ad corpora; haec enim anima est commensurata huic corpori et non illi,
illa autem alii, et sic de omnibus. Auch Josef Mausbach (im ersten seiner fünf
Freiburger Vorträge über »Grundlage und Ausbildung des Charakters nach dem
heiligen Thomas von Aquin«, in den »Moralproblemen« abgedruckt, bei Herder,
Freiburg 1911), der ausdrücklich darauf hinweist: »daß die geistige Seele als
solche nach Thomas nur die Züge der Art, nicht die des Individuums an sich trägt,
und daß er von den Vorzügen des Einzelmenschen regelmäßig nur die allgemeine
Vernünftigkeit, die Ausstattung mit den ersten Denkprinzipien usw. auf das Konto
der Geistigkeit schreibt: danach würden die Seelen als solche für vollkommen
gleich zu halten sein«, auch er muß doch eingestehen, wie furchtbar schwer es uns
wird, anzunehmen, »wirklich anzunehmen, die Seelen eines Augustin und Goethe seien
von denen gewöhnlicher Dutzendmenschen innerlich gar nicht verschieden, die
besondere Kraft und Fülle ihres Geisteslebens erkläre sich nur aus der
Lebendigkeit und Fruchtbarkeit ihrer sinnlichen Vermögen und aus ihrer
körperlichen Vortrefflichkeit«. | |