Volltext |
Der Kunstverlag Anton Schroll in Wien bringt jetzt den ganzen
Anzengruber in fünfzehn Bänden, unter Mitwirkung seines Sohnes, herausgegeben von
Dr. Rudolf Latzke und Dr. Otto Rommel. Zunächst sind zwei Bände »Dorfgeschichten«,
ein Band »Vorstadtgeschichten« und, zum erstenmal, der »Dramatische Nachlaß«
(enthaltend »Die schauderliche Blunzen«, »Der Reformtürk«, »Die Libelle«, »Der
Sackpfeifer«, »Soloszene«, »Glacehandschuh und Schurzfell«, »Ein Geschworner«,
»Der ewige Jud« und »In der Theaterkanzlei«) und ein Band Aphorismen, den Otto
Rommel, etwas herausfordernd, »Gott und Welt« nennt, erschienen. Rommel sieht in
diesen Aphorismen »ein erschütterndes Ringen eines furchtlosen Denkers mit den
großen Problemen«, er findet sie »nicht nur für Anzengruber selbst, sondern für
die ganze Zeit charakteristisch«; und er wiederholt dann nochmals: »sie zeigen
Anzengruber durchaus auf der Höhe der Zeitbildung«. Wenn das stimmt, welch eine
Zeit muß das gewesen sein! Denn es ist das »Ringen« eines an unverdautem Haeckel
würgenden Dorfschullehrers, der auch nur wo die »Probleme« liegen, nicht einmal
ahnt. Anzengruber war um fünf Jahre älter als Nietzsche, beide traten im selben
Jahr ab: 1889 wurde Nietzsche wahnsinnig und Anzengruber starb. Nun aber sich
vorzustellen, daß in der Epoche der »Unzeitgemäßen« und Zarathustras ein deutscher
Dichter noch solchen Kehricht einer »Aufklärung« für Handlungsreisende wiederkäuen
konnte, daß eine, wenn auch rohe, doch zuweilen bis in die letzten Tiefen
tragischer Schauder langende Kraft, ja daß die schönste, reinste Menschlichkeit
sich wohlgemut mit solchem Ungeist verträgt, das hat etwas geradezu
Phantastisches. Dankenswert ist der dramatische Nachlaß, hier sehen wir
Anzengruber sozusagen in seinem Urzustand. Er nahm in unserem Land, das den
homerisch gewaltigen, uhlandisch schlichten, eichendorffisch innigen Stelzhamer ja
bis auf den heutigen Tag noch immer nicht kennt, geschweige denn erkennt, die
letzten vierzig Jahre hindurch die Stelle des Volksdichters ein. Der Nachlaßband
zeigt, wohin ihn sein eigener Instinkt wies: er hatte zunächst keinen höheren
Ehrgeiz als das Werk der Berla, Kaiser, Elmar, Anton Langer, O. F. Berg
fortzusetzen. Auch die hießen damals Volksdichter; für den Wiener jener Zeit war
nämlich »Volk«, was in der Vorstadt wohnt. Wie Daniel Spitzer einmal den braven
Ludwig August Frankl den »Dichter der inneren Stadt« genannt hat, so können die
von O. F. Berg bis Anzengruber für »Volksdichter« gelten; ihr letzter Nachfahr war
noch Costa, Bäuerle mit seinem »Staberl« ist der Ahn gewesen (Raimund wie Nestroy
schlugen von Anfang an ganz aus der Art). Aber Anzengruber, sobald er sich in der
überlieferten Weise nur erst halbwegs fest fühlt, das Technische los hat und den
Apparat handhaben lernt, ragt freilich aus dem Kreise sogleich gewaltig empor, ja
zuweilen fast bis ins Sublime, soweit dieses der Vorstadt erreichbar ist. Bei
demselben angeborenen sicheren Theatersinn, derselben nach jeder Wirkung, ohne
lange zu wählen, zufahrenden, fest anpackenden Faust, der richtigen
»Theaterpratzen«, derselben blühenden, von keiner Überlegung gestörten Lust an
theatermäßigen Verkürzungen, Überzeichnungen, Unterstreichungen, wenn’s nur
zuletzt gehörig kracht, hat er überdies einen ungewöhnlichen Blick für die
Geheimnisse kleiner Menschen, ihre versteckten Zärtlichkeiten wie ihre verschämten
Ruchlosigkeiten, er weiß mehr von ihnen, als sich ihrer einer sonst einzugestehen
wagt, und wenn er anfangs die hergebrachte Form einfach übernimmt, lernt er sie
bald bewußt, ja mit einem ganz unwienerischen Raffinement gebrauchen. Dr. Rommel
hat ganz recht, wenn er »Glacehandschuh und Schurzfell« mit dem »Hüttenbesitzer«
vergleicht: den ganzen Anzengruber legt er, stellt er damit zum erstenmal bloß.
Denn nicht nur im Thema berührt sich Anzengruber hier mit Georges Ohnet und nicht
nur hier berührt er sich mit Georges Ohnet, sondern sie sind von Grund aus, die
beiden sind wesentlich verwandt, darin nämlich, daß sie beide sich ungetrübt die
naive Kra t durch Bildung unangefochtener einfacher Menschen bewahrt haben, die
Kraft, überall im Leben fortwährend die »großen Szenen« zu sehen: der Ungebildete
sieht nichts als große Szenen im Leben, der »Gebildete« sieht sie nirgends und
erst auf der Höhe Calderons und Shakespeares sieht man sie wieder. Den
eigentümlichen Reiz Anzengrubers macht es nun aus, daß immer unentschieden bleibt,
ob er die großen Szenen mit den Augen der Vorstadt oder Shakespeares sieht, wie
man denn im »Vierten Gebot« nie genau weiß, ob man eigentlich in einem
Kolportageroman ist oder auf der Heide Lears. Ich taumle seit vierzig Jahren
zwischen Bewunderung für ihn und Erbitterung gegen ihn hin und her. Einen so
großen Theatraliker hatten wir in Österreich nie, neben ihm wirkt Grillparzer
anämisch. Schlägt er aber sein Theater unter Bauern auf, wird’s mir, der sie
kennt, fürchterlich: seine sind nicht einmal Weinbauern vor der »Linie«, sondern
was er da vor uns auf einem kitschigen Almhintergrund in einer höchstens
allenfalls auf Salontirolerkränzchen erlauschten Mundart herumhopsen läßt, ist nur
vom Brillantengrund alpin. Und ich frage mich z.B. im »G’wissenswurm« immer
wieder, ob es denn (ich weiß, das Wort klingt komisch, aber es drückt eben doch
ganz genau meine Empfindung aus) »erlaubt« ist, Gestalten von der nestroyschen
Kraft des Düsterer, Szenen von der goldonischen Verve des letzten Aktes in ein
Kostüm zu stecken, mit dem sie durchaus unverträglich sind. Natürlich würde der
Knieriem auch meinetwegen in der Tracht eines gorkischen Barfüßlers nicht weniger
wirken, aber irgend eine künstlerische Sittlichkeit fragt da doch wieder tief in
mir: Darf man denn das? Und gerade weil Anzengruber nach dieser künstlerischen
Sittlichkeit nicht fragte, auf sie nicht hörte, gerade darum ist er für den
»Pfarrer von Kirchfeld« zum großen Volksdichter ausgerufen worden. Er hatte
freilich auch das Glück, zurecht zu kommen: in Wien war damals ein großer Dichter
gerade fällig. Eine neue Gesellschaft, eben emporgekommen, die von ihrem Geld nun
aber auch etwas haben, ihre Macht zeigen, der alten gleichen oder doch ähneln
wollte, hatte, kaum eilends trocken geworden, das dringende Bedürfnis, sich vor
allem jetzt aber auch geistig zu möblieren. Und so wird vom Anfang der sechziger
Jahre bis Ende der siebziger über Nacht ein neues Wien improvisiert. Die
Geschichte dieses höchst erfinderisch betriebenen Unternehmens ist noch nicht
geschrieben. Es hat den größten Reiz, wie da, wenn auch unauffällig und eines
offenbar nicht ganz guten Gewissens, ein großes Bürgertum, das es noch gar nicht
gibt oder das jedenfalls zunächst noch lange nicht groß ist, eine westliche Stadt,
ein Paris des Ostens auf einmal fertig geliefert, mit allem Zubehör ausgestattet
und ihm jede der charakteristischen Figuren, die der Aufwand einer Großstadt
braucht, beigestellt werden soll. Ich vermute, daß die Potemkins dieses raschen
Zaubers hauptsächlich in der Redaktion der eben damals gegründeten »Neuen Freien
Presse« saßen. Und vielleicht hat ihr stärkster, ihr fruchtbarster Geist, der
ruhelose Michael Etienne, von dessen genialischer Ungeduld noch ein letzter Hauch
auf Moritz Benedikt lag, vielleicht hat dieser halbe Franzose dabei ganz bewußt an
das Julikönigtum gedacht und sich selber als den Balzac dieses neuen Wien gefühlt,
aber als einen noch weit höheren Balzac, einen nämlich, dem die Wahrheit der Kunst
nicht genügt, sondern der gleich unmittelbare Wirklichkeit selber schafft. Die
besten Gehilfen an dieser Ernennung einer neuen Stadt waren ihm Speidel und
Hanslick. Speidel hatte sich dazu sogar ein eigenes Laboratorium angelegt, in dem
mancher Wiener Homunkulus gebraut worden ist. Das war das berühmte Winterbierhaus
in dem Gäßchen zwischen Tuchlauben und Wildbretmarkt. Dort ist manches gute Glas
Schwechater weit über den Durst getrunken worden: bloß aus Ehrgeiz, weil, wer nur
lange genug zechend dort durchhielt, dafür hoffen durfte, doch schließlich eines
schönen Tags in einem Feuilleton berühmt aufzuwachen. Speidel sah sic seine Leute
sehr gut an. Er war auch ein künstlerisch viel zu rechtlicher Mann, um Unwürdiges
je gelten zu lassen. Aber Würdige, deren Begabung ihm gewiß schien, mit seiner
gewaltigen Hand gelegentlich dann leise noch ein bißchen über ihre Begabung
emporzuheben, emporzuschnellen, hielt er, da nun doch einmal die Hauptsache war,
die neue Gesellschaft möglichst rasch mit allem Nötigen, auch in der Kunst, zu
versorgen, nicht bloß für erlaubt, sondern die Not der Zeit gebot es ihm
eigentlich geradezu: vor allem war damals zunächst das große Spiel des neuen Wien,
dessen letzter Trumpf dann der Makart-Festzug war, einmal in Gang zu bringen, das
ging nicht ohne mancherlei »Notbesetzungen« ab. Diese »Notbesetzungen« werden in
jener erst noch zu schreibenden Geschichte der »Gründerzeit« ein eigenes Kapitel
sein: so gleich Makart selbst, den übrigens jetzt wir noch ärger unterschätzen als
er damals überschätzt worden ist, auch Brahms, gar aber der Bildhauer Natter. Und
der Stammtisch im Winterbierhaus bekam ja bald Junge. Noch bis in die neunziger
Jahre hinein erhielten sie sich. Und so wird bei Gelegenheit auch erst einmal,
vielleicht anläßlich dieser höchst dankenswerten Ausgabe Schrolls, zu revidieren
sein, wieviel von Anzengrubers Ruhm sein gutes Eigentum ist und wieviel auch davon
bloß Stammtischlerei. | |