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In Nebel gehüllt durchs Neutor nach der Riedenburg zum Asyl.
Eine Schwester öffnet und läßt uns in ein einfenstriges Zimmer. Schmal. Ein runder
Tisch, ein Kasten, ein kleiner Schreibtisch, zwei Sessel, ein Sofa,
Heiligenbilder, ein Kreuz und ein Ofen, schön warm. Wie Helene Odilon auf uns
zutritt, grau geworden, mühsam am Stocke, sind wir im ersten Augenblick ebenso
verlegen wie sie. »Es hat schwer gehalten,« sag ich, »dich endlich aufzustöbern!
Ich soll mich nämlich erkundigen, ob es wahr ist. Der Verdacht war entstanden,
eine Hochstaplerin hätte deinen Namen mißbraucht.« »Nein,« antwortet sie. »Leider
nicht! Die Hochstaplerin bin schon ich selber.« Und wie sie mich anblickt und
lacht, wird sie mir auf einmal wieder ganz jung: es ist der arglistige Blick, der
einst Berlin und Wien bezaubert hat, es ist das alte Lachen, das guttural gurrende
Lachen, das Lachen ihrer Haubenlerche! Und auf einmal sind mir da die ganzen
letzten fünfundzwanzig Jahre weg und sie führt mich wieder an der Hand hinaus, um
dem meine Josefine frenetisch auszischenden Publikum ein Buckerl zu machen,
während wir es uns ins Ohr mit den ausgesuchtesten Insulten verwünschen, und der
liebe, dicke, schwitzende Bukovics steht wieder in der Kulisse, vor Aufregung ein
Butterbrot essend; und jenes ganze Wien, die merkwürdige Kaiserkleinstadt, in
ihren Wutanfällen, die so gutmütig waren, und ihren Begeisterungen, die auch nicht
länger dauerten, gleich trügerisch, ist wieder da, nur viel schöner, als es damals
war, weil doch alles nur vorher und nachher, in der Erwartung und in der
Erinnerung, allein wirklich ist, im Augenblick aber, wo wir es erleben, zerrinnt,
weil doch alles Äußere wesenlos ist, weil wir ja, was immer wir erleben mögen,
nichts als immer wieder nur uns erleben, nur uns selbst. Es ist die Helene Odilon,
und wenn’s um sie herum jetzt ein bißchen enger ist und sie sich auf der einen
Seite nicht mehr ganz so flink bewegt, aus ihren Augen schießt, in ihrem Lachen
lockt noch immer der anonyme Reiz, durch den einst so viele helle Berliner, so
viele gaukelnde Wiener verrückt wurden. Sie hat auch noch ihren alten Stolz. Es
wird ihr sichtlich schwer, mir einzugestehen, wie schlecht es ihr eine Zeit
ergangen ist, so schlecht, daß sie sich schon wirklich nicht mehr zu helfen wußte.
Gute Menschen erbarmten sich und sorgten für sie. Sie leide jetzt nicht mehr Not.
»Ich hab’s doch eigentlich ganz schön hier, was will ich denn mehr?« sagt sie, mit
einem dankbaren Blick auf das Zimmerchen; ich muß unwillkürlich an ihre Wiener
Wohnung denken, damals als sie’s war, die, jahrelang, die Wiener Mode diktierte.
Warum denken eigentlich die Wiener Schneider daran nicht? »In meiner Not«, sagt
sie, »hat mir der liebe Gott geholfen, er wird weiter helfen.« Ich glaube das
auch. Nur ist es, dächt ich, kein Grund, daß ihr nicht auch jene Wiener Schneider
helfen könnten, die damals durch sie reich wurden. Und ich weiß nicht, ob sich das
Deutsche Volkstheater noch erinnert, daß es ungefähr zehn Jahre lang von ihr
gelebt hat. | |